Oft lese ich, dass ich durch mein ‚Mindset‘ selbst entscheiden kann, glücklich zu sein und positiv zu denken. Doch ist das wirklich so? Ist es auch okay (oder vielleicht sogar wichtig) mal negativ und wütend zu sein?
Vorab: Ich lerne dauernd dazu, daher kein Anspruch auf Vollständigkeit. Ich freue mich sehr über konstruktives und respektvolles Feedback.
Individuelle und gesellschaftliche Umstände
„Glück ist reine Einstellungssache“ impliziert, dass die Verantwortung fürs Glücklichsein allein beim Individuum liegt. Dabei wird vergessen, dass Menschen unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Umständen, wie sozialer Herkunft oder Erkrankungen ausgesetzt sind, wodurch nicht allen Menschen die gleichen Ressourcen zur Verfügung stehen.
Klar, es ist enorm wichtig, das eigene Wohlbefinden zu fördern und einen Umgang mit den eigenen Problemen und Erfahrungen zu finden. Aber höre ich dabei wirklich auf mich? Bewirke ich etwas für mich selbst? Oder passe ich mich nur an das bestehende (kapitalistische) System an, um zu funktionieren?
Es kann entlastend sein, anzuerkennen, dass nicht alle Probleme in der eigenen Verantwortung liegen, sondern dass viele dieser Probleme durch gesellschaftliche Missstände hervorgerufen werden und dringenden sozialen Wandel bedürfen.Denn viele Menschen teilen ähnliche negative Erfahrungen struktureller Ungleichheiten. Ob im privaten oder öffentlichen Umfeld, oft sind wir mit unseren Herausforderungen nicht allein.
Wut und sozialer Wandel
Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten können zu Wut führen. Diese Reaktion ist angemessen und notwendig, denn sie legt Missstände offen und erzeugt ein Zugehörigkeitsgefühl. So kann sich durch kollektives Handeln gegen Unterdrückung aufgelehnt und sozialer Wandel erzeugt werden.
Wenn nun aber ein positives Mindset als erstrebenswert und Wut als gesellschaftlich negativ konnotiert und zu vermeiden gilt (v.a. bei FLINTA*), schrumpfen die Möglichkeiten des kollektiven Handelns.
(Natürlich sollte dabei bedacht werden, ob die Wut berechtigt und angemessen ist. Widerstand entsteht nicht immer aus berechtigter Wut heraus, sondern leider auch aus Hass, welcher Menschen schaden kann.)
Fokus auf Individuum und Appell
Ein Problem noch: Durch die neoliberale Weltsicht verschiebt sich der Fokus von der Gemeinschaft hin zum Individuum. Dadurch werden anstelle des Staates zunehmend die Menschen selbst in die Verantwortung gezogen ihre Missstände zu regulieren. Gleichzeitig wird es schwieriger, kollektiv zu handeln und sozialen Wandel gegen Missstände voranzutreiben. Umso wichtiger ist es, sich für andere Menschen außerhalb der eigenen Bubble einzusetzen. Anstelle von steigenden individuellen Bemühungen glücklich zu sein, bedarf es z.B. mehr politischen Bemühungen für soziale Gerechtigkeit.
Persönlicher Umgang
An dieser Stelle möchte ich nochmal betonen, dass dies meine Haltung zum Thema ‚(Un)Glücklich sein‘ ist. Für mich funktioniert ein Mix aus dieser Haltung und Psychotherapie am besten, um meinen Alltag und unsere gesellschaftlichen Missstände zu bewältigen. Ich erwarte nicht, dass du das genauso siehst.
Bei psychischen Problemen Hilfe suchen
Außerdem möchte ich nochmal kurz auf die Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen hinweisen. Diese sind, genau wie körperliche Erkrankungen, behandelbar. Ich weiß es ist nicht einfach, aber ich kann nur motivieren, mit Angehörigen zu sprechen und bei psychischen Problemen professionelle Hilfe zu suchen! Z.B bietet die Kassenärztliche Vereinigung eine Terminvermittlung an.
Ausblick
Was ich noch nicht thematisiert habe, ist der Einfluss der vermeintlich positiven Einstellung auf das Individuum. Stichwort: Toxische Positivität. Dazu folgt bald ein weiterer Post.
Quellen
Schreiber, Juliane Marie (2022). Ich möchte lieber nicht: Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven. Piper.